Dr. Daniela Noack, Verena Bock (CVUA Karlsruhe)
Abb.1: Gängige (allerdings nicht zugelassene!) Werbeaussagen
Bereits im Jahr 2021 untersuchte das CVUA Karlsruhe einige dieser Produkte im Hinblick auf die deklarierten Bakteriengehalte. Nur in der Hälfte der Produkte konnte die ausgelobte Menge an Bakterien nachgewiesen werden. Aus diesem Grund wurde das Thema 2022 genauer beleuchtet. Wiederum enthielten 27 % der Proben weniger Milchsäurebakterien, als auf dem Etikett angegeben. Außerdem wurden teilweise Bakterienstämme zugesetzt, die keine Verwendungsgeschichte als Lebensmittel haben und daher als nicht zugelassenes neuartiges Lebensmittel beurteilt wurden.
Doch was genau sind eigentlich Probiotika? Ist ihre Einnahme notwendig, um gesund zu bleiben?
Probiotika sind Zubereitungen, die lebensfähige Mikroorganismen, z. B. Milchsäurebakterien, Hefen oder auch gelegentlich Bazillen enthalten. Sie sollen z. B. eine positive Wirkung auf die Darmflora haben.
Bei Präbiotika hingegen handelt es sich um nicht verdaubare Lebensmittelbestandteile. Sie sollen Wachstum und Aktivität von Bakterien im Dickdarm fördern – Beispiele hierfür sind Ballaststoffe wie Inulin und Oligofruktose.
Anstoß für unser Projekt waren die Analysenergebnisse aus 2021 von sechs NEM, die mit probiotischen Eigenschaften warben. Damals prüften wir, ob die deklarierte Zahl an Mikroorganismen der Größenordnung nach zu finden war. Lebende Keime – und nur diese können unter optimalen Bedingungen Milchsäure bilden – wachsen auf Spezialnährmedien an, vermehren sich und bilden sichtbare Kolonien. Durch Zählen der Kolonien kann die Gesamtzahl an milchsäurebildenden Bakterien berechnet werden. Sie wird in Kolonien bildenden Einheiten pro Gramm angegeben (KBE/g). Die Nachweisgrenze wählten wir so, dass die beworbene Menge ermittelbar gewesen wäre.
Abb.2: Kolonien milchsäurebildender Bakterien auf Selektivagar
Drei Proben wiesen Gehalte zwischen 100 Millionen und einer Milliarde Bakterien auf, was der deklarieren Menge entsprach. In den anderen drei Proben lag die Koloniezahl jedoch unter der Nachweisgrenze, d. h. auf dem Nährmedium waren keine Kolonien gewachsen. Es war zu vermuten, dass zu wenig Keime enthalten waren, um ggf. in tiefere Schichten des Darms vorzudringen (siehe auch Infokasten 2).
Milchsäurebakterien müssen die Magenpassage in großer Zahl unbeschädigt überwinden, um in tiefere Darmabschnitte gelangen zu können [1].
Lactobacillus bulgaricus, zur Herstellung von Kefir verwendet, wird z.B. innerhalb weniger Wochen von der indigenen Bakterienflora aus dem Darm verdrängt.
Der Gehalt an Milchsäurebakterien sinkt bis zum Erreichen des Mindesthaltbarkeitsdatums je nach Bakterienstamm unterschiedlich rasch (Absterberate).
Achtung: Als Folge der Einnahme kann erwünschte Darmflora verdrängt werden. Es ist nicht vorhersehbar, wie sich lebende Mikroorganismen im Einzelfall auswirken.
Die Herstellung dieser NEMs erfordert eine Menge Know-How. Zu den Einflussfaktoren, die berücksichtigt bzw. beherrscht werden müssen, um eine optimale Magenpassage zu erzielen, siehe Abbildung 3.
Abb.3: Probiotika – Know-How der Herstellung. Verschiedene technologischer Prozesse können Einflüsse auf die Überlebensrate im Magen haben [2].
Diesmal wollten wir es genauer wissen: Kommt es häufiger vor, dass der angegebene Bakteriengehalt nicht nachgewiesen werden kann? Welche Faktoren könnten darauf Einfluss haben? Wie unterschiedlich sind die Gehalte zum Zeitpunkt der Untersuchung? Und sind die deklarierten Bakterienarten auch vorhanden?
15 Nahrungsergänzungsmittel wurden 2022 ausgewählt, die mehrheitlich in Form von Kapseln, teilweise auch in Form von losem Pulver vermarktet wurden. Laut Kennzeichnung waren meist mehrere Bakterienspezies enthalten, im Durchschnitt etwa 10 verschiedene. Häufig (77 %) waren auch Ballaststoffe wie Inulin und Fructooligosaccharide zugesetzt, die Darmbakterien als Energiequelle dienen sollen. Ebenso oft wurden Vitamine (v. a. B-Vitamine) und/oder Mineralstoffe zugesetzt. Damit die Milchsäurebakterien die Magenpassage überleben, wurden teilweise magensaftresistente Kapseln bzw. Arten verwendet oder auf mikroverkapselte Bakterien gesetzt.
Die Mikroverkapselung bezeichnet eine Technik, bei der Substanzen mit Hilfe anderer Stoffe umhüllt und versiegelt werden. Als Hüllmaterial können u. a. Fette, Proteine oder Kohlenhydrate dienen. Auf diese Weise werden die eingehüllten Substanzen (Wirkstoff) vor äußeren Einflüssen (z. B. auch während der Lagerung) geschützt [3].
Ein spezieller Nähragar wurde zur Zählung und Bestimmung eingesetzt. Die methodische Nachweisgrenze wurde für niedrige Gehalte passend gewählt.
Bewachsene Nährmedienplatten mit gut von der Umgebung abgrenzbaren Einzelkolonien dienten als Grundlage für weitere Untersuchungen. (mehr dazu hier)
Vier der 15 Proben (27 %) wiesen Keimzahlen unter 100.000 (105 KBE/g) auf, bei einer von ihnen waren überhaupt keine Kolonien gewachsen, was einer Zahl von unter 2.000 Keimen entspricht. Abweichend davon waren bei diesen Produkten jedoch Gehalte zwischen 108 – 1010 KBE/g deklariert.
Die restlichen 11 Produkte (73%) enthielten lebende Keime zwischen ca. 107 und 1010KBE/g. Nur bei insgesamt sechs Erzeugnissen (40%) stimmte der deklarierte Gehalt von der Größenordnung her sehr gut mit dem nachgewiesenen überein.
Wir legten fest, Ergebnisse von über 10 Millionen (107 KBE/g) Milchsäurebildnern als zufriedenstellend zu werten. Bei größeren Abweichungen wurde die Kennzeichnung als irreführend beurteilt oder eine Überprüfung der durchgeführten Eigenkontrollen beim Hersteller angeraten.
Abb.4: Bakteriengehalte der Produkte
Welche Gründe konnte es für derart variierende Ergebnisse geben? Ob bereits bei der Zubereitung geringere Mengen verwendet wurden, kann im Labor nicht ermittelt werden und wäre nur durch eine Kontrolle vor Ort möglich.
Ein Anhaltspunkt fand sich auf einigen Verpackungen, bei denen der Aufzählung der zugesetzten Keime bzw. Keimgehalte die Ergänzung „zum Zeitpunkt der Produktion“ vorangestellt war.
Wir werteten die ermittelten Bakteriengehalte im Zusammenhang mit den Restlaufzeiten der angegebenen Mindesthaltbarkeitsdaten aus (siehe Abbildung 5).
Abb.5: Differenz zwischen deklarierter und analytisch bestimmter Menge der Milchsäurebakterien (log KBE/g) in Abhängigkeit von der Restlaufzeit der Einzelproben
Ein negativer „Ausreißer“ zeigte sich, bei dem ein Mindesthaltbarkeitsdatum von 15 Monaten nach dem Untersuchungszeitpunkt angegeben war. Das Produkt enthielt jedoch gerade noch 104 KBE/g (deklariert waren hingegen 109 KBE/g). Drei weitere Produkte mit niedrigen Keimzahlergebnissen sollten jeweils nur noch 4 Monate haltbar sein. Angesichts solch geringer Keimzahlen ist nicht damit zu rechnen, dass eine Magenpassage in ausreichender Zahl erfolgt.
Bei den übrigen 11 NEMs gingen lange Restlaufzeiten auch mit einem hohen Bakteriengehalt einher.
Rein rechtlich müssen die deklarierten Gehalte jedoch Durchschnittswerte sein, die bis zum Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums auch tatsächlich im Produkt vorhanden sind.
Bei den 15 Produkten waren zwischen einem und 32 (!) verschiedene Bakterien in den Zutaten aufgelistet. Meist wurde lediglich die Spezies angegeben (z. B. Lactobacillus rhamnosus), in manchen Fällen jedoch auch die wissenschaftlich vollständige Bezeichnung des verwendeten Stammes (inkl. Stammnummer).
Nicht alle der deklarierten Bakterienspezies haben jedoch eine Verwendungsgeschichte als sicheres Lebensmittel in der EU, weshalb sie als nicht zugelassene neuartige Lebensmittelzutaten beurteilt wurden und nicht verkehrsfähig waren. Neuartige Lebensmittelzutaten müssen vor dem Inverkehrbringen eine Sicherheitsbewertung durchlaufen. Fehlt diese, ist die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Bakterien nicht geklärt. Dies betraf insgesamt 8 verwendete Bakterienarten, die in 4 der Proben enthalten waren.
Nur eine Probe (7 %) wurde weder analytisch noch auf Grund ihrer Kennzeichnung beanstandet. Fast alle anderen Produkte (80 %) fielen durch unzulässige gesundheitsbezogene Werbeaussagen auf, insbesondere in Bezug auf den Darm, die Verdauung oder das Immunsystem. Für Milchsäurebakterien sind solche Angaben bisher nicht zugelassen. Alle dazu beantragten Angaben wurden von der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) als wissenschaftlich nicht hinreichend gesichert abgelehnt und es ist somit verboten, damit zu werben. Der gesundheitliche Nutzen solcher NEM ist also bislang nicht belegt.
In einigen Fällen (20 %) wurde auch der unzulässige Eindruck erweckt, die Produkte könnten zur Behandlung von Krankheiten (z. B. Allergien, chronische Darmbeschwerden, Pilzinfektionen) eingesetzt werden. Da NEM für gesunde Menschen bestimmt sind und keine pharmakologische Wirkung haben dürfen, sind solche Aussagen von vornherein ausgeschlossen.
Ob die Darmflora bei gleichbleibender Ernährung durch neue Bakterienstämme beeinflusst werden kann, ist bislang ungeklärt. Eine drastische Veränderung der Zusammensetzung der vorherrschenden Bakterienstämme kann jedoch ausgeschlossen werden [4,5]. Sinnvoller erscheint es daher, regelmäßig natürliche Quellen für Milchsäurebakterien in die tägliche Ernährung einzubauen. Dazu eignen sich fermentierte Lebensmittel wie Joghurt, Buttermilch und Sauerkraut. Wichtig ist auch, dass durch die Aufnahme von Ballaststoffen genügend „Futter“ für die Vermehrung der Mikroorganismen zur Verfügung steht, z. B. durch Gemüse (Topinambur, Artischocken etc.), Vollkornprodukte und Hülsenfrüchte.
[1] PCT Patent Nr. WO 00/07571 „Formulations having probiotically active microorganisms“ (2000)
[2] SENZ, „Prozesstechnische Stabilisierung des probiotischen Milchsäurebakteriums Lactobacillus acidophilus“, Dissertation (2012)
[3] Muermann, Rexroth, Sumfleth: "Handbuch der Lebensmittelzusatzstoffe", Behr’s Verlag Hamburg, ISBN: 978-3-925673-89-4 (Online-Version)
[4] Deutsche Gesellschaft für Ernährung e. V. (DGE) Ernährungsbericht 2004
[5] Verbraucherzentrale NRW: "Nahrungsergänzungsmittel mit Mikroorganismen", abgerufen am 18.01.2023 https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/lebensmittel/nahrungsergaenzungsmittel/nahrungsergaenzungsmittel-mit-mikroorganismen-58854