Wenn das weibliche Reh ein Geweih trägt

Eine Seltenheit – „Gehörnte Ricke“ mit bastbedeckten Stangen

Ein Bericht aus unserem Laboralltag

Dr. Anna Katharina Schwalm

 

Ricke oder Rehbock? Das auffälligste Merkmal des Geschlechtsdimorphismus beim Rehwild ist das Geweih beim Rehbock („Gehörn“), welches ihn schon aus Entfernung als männliches Tier identifiziert. Aber trifft dies immer zu? Der Fund eines Rehs mit Geweih und weiblichem Genitale wirft Fragen auf.

 

Da staunt man nicht schlecht – Der Fund eines Unfallwilds am Straßenrand im April 2020 überrascht: Ein Rehwild mit weiblichem Genitale und Stirnauswüchsen scheint paradox und veranlasste den Jagdausübungsberechtigten den Tierkörper zu uns zur Sektion zu bringen.

 

Sektionsbefunde

Bei der äußeren Besichtigung zeigten sich klare weibliche primäre und sekundäre Geschlechtsmerkmale, wie die Scheide und ein angebildetes Gesäuge.

Zusätzlich hatte das Tier paarig ausgebildete, deformierte und knöcherne Stirnauswüchse. Diese waren an der Schädelbasis blumenkohlartig aufgetrieben und mit jeweils ungleichmäßig langen bastbedeckten Stangen versehen. Der Bast war teilweise abgefegt.

 

Abb. 1 und 2: Deformierte Stirnauswüchse mit bastbedeckten Stangen bei einem weiblichen Rehwild (Ricke). Teilweise ist die rötliche Knochenhaut zu sehen.

Abb. 1 und 2: Deformierte Stirnauswüchse mit bastbedeckten Stangen bei einem weiblichen Rehwild (Ricke). Teilweise ist die rötliche Knochenhaut zu sehen.

 

Neben pathologischen Veränderungen infolge eines stumpfen Traumas war das Tier hochgradig mit Ektoparasiten (Zecken, Hirschlausfliegen) befallen. Bei der Sektion wurde zudem eine intakte Zwillingsträchtigkeit nachgewiesen.

 

„Gehörnte Ricken“

„Gehörnte“ Ricken kommen selten vor, sind aber bekannt [3]. Bei weiblichen Tieren können Stirnauswüchse gebildet werden. Die Variationsbreite der Stirnauswüchse ist dabei sehr groß und reicht von Knochenerhebungen an der Stirn bis hin zu stangenartigen Strukturen [1]. Bastbedeckte Stangen sind dabei von noch größerer Seltenheit [1, 4].

In einer norwegischen Studie wurden über 14 Jahre hinweg in der Jagdsaison das Auftreten von Rosenstöcken (Stirnzapfen) bei weiblichen Rehen erfasst. Einbezogen wurden 50 Rickenkitze, 49 junge Ricken (1,5 bis 2,5 jährig) und 27 ältere Ricken (mind. 3,5 jährig). Bei den Jungtieren (Kitze und 1,5 Jährige) ergab sich eine Häufigkeit für Rosenstockbildung von jeweils ca. 6 %. Bei den älteren Ricken waren es nahezu 15 %. Nur eine Ricke trug dabei ein echtes Geweih (1,7 %) [2].

 

Mögliche Ursachen

Zu den Ursachen gibt es kaum wissenschaftliche Arbeiten. Die Stirnauswuchsbildung wird bei männlichen Cerviden (Familie der Hirsche) durch das Geschlechtshormon Testosteron induziert. Beim weiblichen Tier wird diese Aktivierung durch eine hohe Östrogenkonzentration gehemmt.

Eine Störung oder altersbedingte Umstellung des Hormonhaushalts, wie auch testosteronbildende Tumoren können zur Stirnauswuchsbildung bei Ricken führen [1]. So ist beispielsweise beschrieben, dass bei Ricken mit fortgeschrittenem Alter und abnehmendem Östrogenspiegel Stirnauswüchse an Größe zunehmen können [1, 4]. Des Weiteren ist eine einseitige Eierstockshypoplasie (Unterentwicklung des Eierstocks) anzusprechen, sodass zwar der Hormonhaushalt beeinflusst wird, eine intakte Trächtigkeit jedoch trotzdem möglich ist [4].

Neben hormonellen Einflüssen gilt auch eine unspezifische Reizung der geweihbildenden Knochenhaut, die bei weiblichen wie männlichen Tieren gleichermaßen angelegt ist, als mögliche Ursache der Geweihbildung [1].

 

Quellen

[1] Kierdorf U und Kierdorf H. Eine Rickenperücke von außergewöhnlicher Stärke. Z. Jagdwiss. 31 (1985), 242–246, 1985.

[2] Mysterud A and Østbye E. The frequency of antlered female and anterless male roe deer (Capreolus capreolus) in a population in south-east Norway. Z. Jagdwiss. 45 (1999), 208–211, 1999.

[3] persönliche Kommunikation mit FVA (Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg)

[4] Stubbe C. Rehwild. 5. Auflage, 118–119, 2008.

 

Artikel erstmals erschienen am 01.09.2020