Lieber „Kemie“ statt Keime? – In der EU ist beides nicht zulässig

Teil 2: Pflanzenpulver und Nahrungsergänzungsmittel

Ellen Scherbaum, Dr. Christiane Lerch, Leonie Moser, Eric Eichhorn, Dr. Michelangelo Anastassiades

 

» Teil 1: Begasungsmittel Ethylenoxid in Sesam

» Teil 3: Instant-Nudelgerichte – asiatisch, auch mit Ethylenoxid begast!

 

Im Herbst 2020 wurden in Belgien hohe Gehalte an Ethylenoxid in Sesamsaaten aus Indien festgestellt und über das europäische Schnellwarnsystem RASFF kommuniziert. Die EU-Kommission hat rasch und entschlossen reagiert: Sesam aus Indien darf inzwischen nur noch mit entsprechend negativem Analysenzertifikat in die EU importiert werden [1] und ist in der Zwischenzeit wieder unauffällig.

Als amtliche Lebensmittelüberwachung sind wir dennoch weiter gefordert. Wir haben unsere Untersuchungen fortgeführt und auf weitere Probenarten ausgeweitet. Mit unserer neu entwickelten Analysenmethode ist das auch möglich. Bei den Nahrungsergänzungsmitteln (NEM) sind wir fündig geworden und das gleich mehrfach.

 

Foto: verschiedene Nahrungsergänzungsmittel.

 

Was ist Ethylenoxid?

Ethylenoxid ist ein farbloses, hochentzündliches Gas mit süßlichem Geruch. Hauptsächlich wird es als Zwischenprodukt zur Synthese anderer Chemikalien verwendet. Zu einem kleinen Bruchteil (~0,05 % der Weltproduktion) wird es auch direkt zur Begasung und Desinfektion von medizinischem Gerät oder zur Bekämpfung von Pilzen und Bakterien in Lebensmitteln wie Gewürzen, Nüssen und Ölsaaten eingesetzt.

 

Wie ist die Verwendung von Ethylenoxid geregelt?

In Deutschland ist der Einsatz von Ethylenoxid als Begasungsmittel aus toxikologischen Gründen bereits seit 1981 nicht mehr zulässig. Seit 1991 ist es als Pflanzenschutzmittel in der EU vollständig verboten, da es als kanzerogen und mutagen eingestuft wurde. Im Jahr 2008 wurde die jetzt gültige Rückstandsdefinition der Summe aus Ethylenoxid und dem Reaktionsprodukt 2-Chlorethanol, ausgedrückt als Ethylenoxid, festgesetzt [2]. Die maximal zulässigen Höchstgehalte wurden auf die analytische Bestimmungsgrenze gesetzt.

 

In Drittländern, wie z. B. Indien, aber auch USA und Kanada, ist die Verwendung von Ethylenoxid dagegen immer noch zulässig. Hier gilt also „lieber Chemie als Keime“. In Kanada wurden Ende 2019 für Ethylenoxid in Sesam ein Höchstgehalt von 7 mg/kg und für 2-Chlorethanol ein Höchstgehalt von 940 mg/kg (!) vorgeschlagen und am 10.01.2020 festgelegt [3,4].

 

Darüber hinaus besteht in der EU auch ein explizites Verbot, was die Anwendung von Ethylenoxid zur Sterilisation von Lebensmittelzusatzstoffen anbelangt [5] (siehe auch Infokasten).

 

Infokasten

Ethylenoxid im Zusatzstoffrecht

In VO (EG) Nr. 1333/2008 regelt die EU unter anderem die Verwendung von Zusatzstoffen. Hier ist auch festgelegt, dass nur Zusatzstoffe, die den Spezifikationen in der VO (EU) Nr. 231/2012 entsprechen, verwendet werden dürfen (Anhang II Teil A Nr. 21.1 der VO (EG) Nr. 1333/2008). Gemäß dem Anhang der VO (EU) Nr. 231/2012 darf Ethylenoxid zur Sterilisierung von Zusatzstoffen nicht verwendet werden. Lebensmittel, in denen ein Zusatzstoff eingesetzt wurde, der nicht den Vorgaben der VO (EG) Nr. 1333/2008 entspricht, dürfen nach Art. 5 der VO (EG) Nr. 1333/2008 nicht in Verkehr gebracht werden [6].

 

Wie wird Ethylenoxid in Lebensmitteln bestimmt?

Ethylenoxid ist eine sehr flüchtige und sehr reaktive Verbindung. In behandelten Lebensmitteln liegt es daher nur noch in geringen, in der Regel nicht mehr bestimmbaren Mengen als solches vor. Das wichtigste Reaktionsprodukt von Ethylenoxid in Lebensmitteln ist 2-Chlorethanol. Der Gesetzgeber hat deshalb einen sogenannten Summenhöchstgehalt für Ethylenoxid und 2-Chlorethanol, berechnet als Ethylenoxid, festgesetzt. Das CVUA Stuttgart hat 2020 ein Analysenverfahren entwickelt, bei dem Ethylenoxid und 2-Chlorethanol individuell nebeneinander bestimmt werden können [7]. Es ist gelungen, beide Substanzen in bestehende, weit verbreitete Multimethoden (QuEChERS, QuOil [8]) zu integrieren. Dadurch ist es möglich, routinemäßig in größerem Umfang auf Ethylenoxid und sein Reaktionsprodukt zu untersuchen.

 

Wie sind die ermittelten Gehalte hinsichtlich der Toxizität zu beurteilen?

Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) gibt in seiner Stellungnahme [9] eine „Aufnahmemenge von geringer Besorgnis“ für Ethylenoxid von 0,037 µg pro kg Körpergewicht an (siehe Infokasten). Aus Sicht des BfR, soll die Risikobewertung für 2-Chlorethanol (2-CE) wie für Ethylenoxid erfolgen. Wird diese „Aufnahmemenge von geringer Besorgnis“ überschritten, so ist das entsprechende Lebensmittel als „nicht sicher“ einzustufen, bei einer mehr als 2-fachen Überschreitung der oben genannten Menge, wird das Erzeugnis als „gesundheitsschädlich“ beurteilt. In beiden Fällen muss das betroffene Lebensmittel zum Schutz der Verbrauchergesundheit vom Markt genommen werden.

 

Infokasten

Toxikologische Bewertung von Ethylenoxid und 2-Chlorethanol

Ethylenoxid ist als Kanzerogen der Kategorie 1B und als Mutagen der Kategorie 1B eingestuft (ECHA Klassifizierung [10]), so dass Lebensmittel mit bestimmbaren Rückständen an Ethylenoxid als gesundheitlich unsicher einzustufen sind.
Für 2-Chlorethanol, das rechtlich relevante Reaktionsprodukt von Ethylenoxid, ist die Datenlage widersprüchlich und teilweise unvollständig. Zu den kanzerogenen Eigenschaften von 2-Chlorethanol kann derzeit keine sichere Aussage getroffen werden. Für eine gentoxische Aktivität gibt es zahlreiche Hinweise; die Existenz eines möglichen Schwellenwertes und die In-vivo-Relevanz ist jedoch nicht abschließend geklärt. Es gibt derzeit keine Hinweise dafür, dass 2-Chlorethanol eine höhere Toxizität als Ethylenoxid aufweist. Die Risikobewertung für 2-Chlorethanol sollte daher vorsorglich wie für Ethylenoxid erfolgen, so das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in seiner aktuellen Stellungnahme vom 20.11.2020 [9]. Somit sind Lebensmittel auch dann als gesundheitlich unsicher einzustufen, wenn der ermittelte Ethylenoxid-Summengehalt ausschließlich auf die Bestimmung von 2-Chlorethanol zurückzuführen ist. Diese Bewertung hat das BfR auf erneute Anfrage im Juni 2021 auch für NEM bestätigt (bisher unveröffentlicht) [11].
Hinsichtlich kanzerogener Wirkungen von Ethylenoxid etabliert das BfR nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft einen BMDL10-Wert von 370 μg/kg Körpergewicht (KG) und Tag als Referenzpunkt für Risikobetrachtungen. Die BMDL10 beschreibt die untere Grenze des Konfidenzintervalls der Dosis, die im Tierversuch bei 10 % der Tiere einen Tumor auslöst. Wird ein Margin of Exposure (MOE) von 10.000 angewandt, so ergibt sich eine Aufnahmemenge geringer Besorgnis für Ethylenoxid von 0,037 µg /kg KG.

 

Ad-hoc Sonderuntersuchung von Nahrungsergänzungsmitteln und Pflanzenpulvern, was war das Ergebnis?

Nachdem die ersten beiden Befunde an 2-Chlorethanol in NEM mit sehr hohen Gehalten an 2-Chlorethanol abgesichert waren, hat das CVUA Stuttgart im Juni 2021 in einem kurzfristig veranlassten Sonderuntersuchungsprogramm insgesamt 135 Proben NEM, Pflanzenpulver und Kapselhüllen (sog. Leerkapseln) auf Ethylenoxid und 2-Chlorethanol analysiert.

 

Pflanzenpulver – „Superfood“

Foto: verschiedene Pflanzenpulver.Pulver aus Pflanzen und getrockneten Früchten – häufig exotischer Herkunft – werden seit einigen Jahren erfolgreich unter dem rechtlich nicht geregelten Marketingbegriff “Superfood” vertrieben. Superfoods werden i. d. R. nur in kleinen Mengen (löffelweise) verzehrt und vor allem zur Herstellung von „Smoothies“ benutzt, aber auch gern bei Joghurt und Müsli zugefügt. Sie sind vielfach auch als NEM in verkapselter Form oder als Pressling erhältlich.

 

Wir berichteten in den letzten Jahren mehrfach darüber, dass exotische Superfoods häufig wegen Pestizidbelastungen und mikrobieller Kontaminationen Anlass zu Beanstandung gaben [12–14]. Bei unserem aktuellen Projekt wurden insgesamt 53 Proben Pflanzenpulver wie Gerstengras, Moringa, Maca und Flohsamenschalen untersucht. Drei dieser Proben wurden wegen Überschreitung des Summenhöchstgehaltes an Ethylenoxid und 2-Chlorethanol (ausgedrückt als Ethylenoxid) beanstandet: 1-mal Moringa, 2-mal Flohsamenschalen. Einen Überblick gibt Tabelle 1.

 

Tabelle 1: Pflanzenpulver „Superfood“ (CVUAS Juni 2021)
Bezeichnung
Anzahl Proben
Mit Gehalten an
2-Chlorethanol
Beurteilung
(davon Öko)
(davon Öko)
Flohsamenschalen
22 (9)
2 (0)
Überschreitung des Höchstgehaltes
Maca
9 (9)
0
 
Moringa
4 (4)
1 (1)
Überschreitung des Höchstgehaltes, gesundheitsschädlich
Graspulver
5 (3)
0
 
Algen
2 (2)
0
 
Sonstige*
11 (6)
0
 
Summe
53 (33)
3 (= 5,7 %)
 

*Fruchtpulver: Acerola, Hagebutten, Traubenkern, Mango, Aronia; Gemüsepulver: Rote Bete, Kräuter; Wurzelpulver: Ashwaghanda

 

Von den 53 untersuchten Pflanzenpulvern waren 3 auffällig (5,7 %). Dies betraf ausschließlich Moringa und Flohsamenschalen. Die ökologisch erzeugten Produkte mit Herkunft EU waren unauffällig.

 

Nahrungsergänzungsmittel in Kapseln

Pflanzenpulver gibt es auch in Kapselform zum Einnehmen. Wie die Regale in Supermärkten, Drogerien und insbesondere der Internethandel zeigen, besteht ein mehr als umfangreiches Angebot an Nahrungsergänzungsmitteln. Es ist auf jeden Fall ein Riesengeschäft. Die Zutatenlisten lesen sich manchmal wie ein Rezept zur Herstellung von Zaubertränken bei Harry Potter, etwa:
Shatavariwurzelpulver, Kapselhülle HPMC, Reishi-Pilze, Kurkumawurzelextrakt, Shatavariwurzelextrakt, Broccolisamensprossen, Extrakt aus Grünteeblättern, Macawurzelextrakt, Ingwerwurzel, Aloe Vera Saftkonzentrat, Meeresalgen, Spirulina
oder
Rosskastaniensamen-Extrakt, rotes Weinlaub-Extrakt, HPMC, Traubenkern-Extrakt, Rutin-Pulver, Bambus-Extrakt, Calciumascorbat, Vitamin E, Mäusedornwurzelextrakt.

 

Auch bei der suggerierten Wirkung ist für alle was dabei: Gelenke, Venen, Immunsystem, Augen, Frauenbeschwerden, Libido – für fast alles ist eine Kapsel im Angebot. Wir finden, dass über die Sinnhaftigkeit solcher Zusammensetzungen durchaus nachgedacht werden sollte.

 

Aktuell haben wir 40 NEM-Proben in Kapselform auf Rückstände an Ethylenoxid und 2-Chlorethanol untersucht und sind auf überraschende Ergebnisse gestoßen. Bei der getrennten Untersuchung von Kapselhüllen und Inhalt fiel auf, dass bei bestimmten Erzeugnissen zwar die Hülle belastet war, aber nicht der Inhalt – ausnahmslos handelte es sich hierbei um Hüllen, die nach Angaben aus dem Zusatzstoff Hydroxypropylmethylcellulose (HPMC, E 464) hergestellt wurden. Aufgrund der beliebt gewordenen veganen Ernährungsweise werden NEM mit pulverförmigem Inhalt nunmehr überwiegend in HPMC- statt in Gelatine-Kapseln angeboten. Der Verzehr der für den Menschen unverdaulichen HPMC gilt bei mäßigem Konsum (eigentlich) als unbedenklich.

 

Die Beurteilung und auch die Ursachenforschung gestaltet sich bei komplex zusammengesetzten Proben deutlich komplizierter, insbesondere wenn sowohl die Kapselhülle als auch der Inhalt einen positiven Befund zeigen. Die Ermittlung der Eintragsquelle(n) dürfte angesichts der weltweiten Handelswege bei Zusammensetzungen, wie oben beispielhaft aufgeführt, eine Herausforderung für die verantwortlichen Unternehmen darstellen.

 

In Tabelle 2 sind die Untersuchungsergebnisse der 12 positiv getesteten Kapseln aufgeführt. Jeweils dargestellt ist das Ergebnis für die ganze Kapsel, den Kapselinhalt und die Kapselhülle. 30 % der untersuchten Proben waren positiv, in 6 Fällen wurden die Proben als gesundheitsschädlich beurteilt. Teilweise stammten die 2-Chlorethanolgehalte eher aus den Kapseln, teilweise aus den Pulvern und teilweise schienen sogar beide Komponenten belastet zu sein. Da eine innige Verbindung zwischen Kapsel und Inhalt besteht und damit ein Stoffaustausch stattfindet, können aber erst Untersuchungen der Ausgangsmaterialien absolute Klarheit bringen.

 

Tabelle 2: Nahrungsergänzungsmittel in Kapseln mit 2-Chlorethanolgehalten (CVUAS Juni 2021)
Probe
Bestimmter
Gehalt an
2-Chlorethanol
Berechneter Gehalt an Ethylenoxid
Öko/ Konventionell
Beurteilung
[mg/kg]
[mg/kg]
Gerstengras-Kapseln
177
96,8
Öko
Gesundheitsschädlich, Überschreitung des Höchstgehaltes
· darin enthaltenes Gerstengras-Pulver
37,3
20,4
· leere Kapseln (aus HPMC)
698
384
 
 
 
 
 
Moringa-Kapseln
3.716
2.035
Konv.
Gesundheitsschädlich, Überschreitung des Höchstgehaltes
· darin enthaltenes Moringa-Pulver
4.040
2.210
· leere Kapseln (aus Gelatine)
3.065
1.686
 
 
 
 
 
Rotes Maca-Kapseln
1,6
0,88
Öko
Hinweis Zusatzstoffrecht
· darin enthaltenes Rotes Maca-Pulver
0,37
0,2
· leere Kapseln (aus HPMC)
7,8
4,3
 
 
 
 
 
Frauengesundheit-Kapseln
3,2
1,8
Konv.
Hinweis Zusatzstoffrecht
· darin enthaltenes Pulver, Mischung aus verschiedenen Pflanzenteilen
0,8
0,44
· leere Kapseln (aus HPMC)
nicht durchgeführt
 
 
 
 
 
Mariendistel-Kapseln
1,3
0,71
Öko
Hinweis Zusatzstoffrecht
· darin enthaltenes Pulver
0,11
0,06
· leere Kapseln (aus HPMC)
6,9
3,8
 
 
 
 
 
Kaktusfeigenblüten-Kapseln
144
79,2
Konv.
gesundheitsschädlich
· darin enthaltenes Pulver
49,7
27,2
· leere Kapseln (aus HPMC)
480
264
 
 
 
 
 
Kurkuma-Kapseln
0,4
0,22
Öko
Hinweis Zusatzstoffrecht
· leere Kapseln (aus HPMC)
2,4
1,3
· darin enthaltenes Pulver
nicht durchgeführt
 
 
 
 
 
Venen-Kapseln
204
112
Konv.
gesundheitsschädlich
· darin enthaltenes Pulver
164
89,8
· leere Kapseln (aus HPMC)
374
205
 
 
 
 
 
Gelenk-Kapseln
127
69,3
Konv.
gesundheitsschädlich
· darin enthaltenes Pulver
10
5,4
· leere Kapseln (aus HPMC)
777
425
 
 
 
 
 
Immun-Kapseln
2,5
1,4
Konv.
Hinweis Zusatzstoffrecht
· darin enthaltenes Pulver
2,3
1,3
· leere Kapseln (HPMC)
4
2,2
 
 
 
 
 
Laktobakterien-Kapseln
0,17
0,1
Konv.
Hinweis Zusatzstoffrecht
· leere Kapseln (aus HPMC)
0,55
0,3
· darin enthaltenes Pulver
Nicht durchgeführt
 
 
 
 
 
Ashwaghanda-Kapseln
21,5
11,8
Konv.
gesundheitsschädlich
· darin enthaltenes Pulver
9,7
5,3
· leere Kapseln (aus HPMC)
103
56,3

 

 

Leerkapseln aus Hydroxypropylmethylcellulose (HPMC)

Aufgrund der Ergebnisse der NEM in Kapseln, haben wir auch Leerkapseln untersucht: 10 Proben wurden über das Internet bestellt; weitere Proben wurden bei (Lohn-)Herstellern von NEM erhoben. Insgesamt wurden 21 Proben Leerkapseln aus HPMC und zwei Proben HPMC-Pulver geprüft. Drei Proben Leerkapseln wiesen positive Befunde an 2-Chlorethanol auf. Die Gehalte an 2-Chlorethanol lagen dabei unter 1 mg/kg bis über 500 mg/kg. Bei solch hohen Gehalten (500 mg/kg) reicht bereits der Verzehr einer Kapsel pro Tag um über die „Aufnahmemenge geringer Besorgnis“ zu kommen.

 

Aus den uns vorgelegten Zertifikaten für Leerkapseln geht hervor, dass üblicherweise aus Holz gewonnene Cellulose als Rohstoff für die HPMC-Produktion dient.

 

Infokasten

Herstellung des Zusatzstoffes HPMC (E 464)

HPMC wird durch eine sog. Veretherung mittels organischer Chemikalien und unter Anwendung drastischer chemisch-physikalischer Bedingungen aus Cellulose hergestellt. HPMC kommt – je nach gewünschter technologischer Eigenschaft – in verschiedenen Polymerisationsgraden und unterschiedlichen Substitutionsgraden auf den Markt [15,16].
Als Lebensmittelzusatzstoff dient HPMC zu vielfältigen technologischen Zwecken, außer als Überzug u. a. auch als Füllstoff, Verdickungsmittel, Stabilisator, Trägerstoff sowie als Emulgator [16]. Im Arzneimittelbereich ist der Stoff unter der Bezeichnung „Hypromellose“ bekannt. In vielen Fällen werden dem HPMC auch weitere Stoffe beigemengt, wie z. B. Polyethylenglykol und Carrageen.

 

Zertifikate bieten Herstellern von NEM keinen ausreichenden Schutz. Bei zwei unauffälligen Leerkapseln war im Zertifikat vermerkt, dass keine Verwendung von Ethylenoxid erfolgte. Eine Probe mit koreanischem Zertifikat („no Ethylene Oxide“) war allerdings hoch belastet.

 

Der Weg vom Baum zur Kapselhülle ist manchmal sehr weit: Pinienholzfasern von der Ostküste der USA wurden nach Korea zu Herstellung von HPMC-Pulver transportiert und dieses dann in China zu Kapselhüllen verarbeitet. Über einen österreichischen Importeur gelangten diese Kapseln dann zu einem Hersteller von NEM in Baden-Württemberg. Bei derart vielen und weltweit verteilten Stationen ist die Ursachenermittlung bei einer Belastung sicher sehr schwierig. Die Angaben in diesem Zertifikat weisen aber auch bedenklich auf den negativen ökologischen Fußabdruck solcher Kapseln hin – und diese Umstände dürften wohl kaum einem Verbraucher bekannt sein.

 

Nahrungsergänzungsmittel in Form von Tabletten

Foto: verschiedene Nahrungsergänzungsmittel in Tablettenform.Aufgrund der Untersuchungsergebnisse lag es nahe, auch NEM in Tablettenform zu untersuchen, in deren Zutatenverzeichnis HPMC aufgeführt ist. Bei einigen handelsüblichen Mineralstoff- und Vitaminpräparaten wurden wir sofort fündig. Im Zutatenverzeichnis jeder der auffälligen Proben war HPMC genannt, produktabhängig waren allerdings auch eine Reihe weiterer Zutaten, darunter auch andere (modifizierte) Cellulosen deklariert: Mikrokristalline Cellulose (E 460 (i)), Hydroxypropylcellulose (E 463), vernetzte Natriumcarboxymethylcellulose (E 468) und Cellulose (E 460 (ii)). Siehe auch Infokasten.

 

Infokasten

Celluloseether als Zusatzstoffe in Lebensmitteln

Neben HPMC (E 464) werden in Lebensmitteln eine Reihe ebenfalls durch Veretherung hergestellte, sog. „modifizierte Cellulosen“ eingesetzt (Zusatzstoffe E 461 bis E 469).
Modifizierte Cellulosen sind für viele Lebensmittel zugelassen. Mit wenigen Ausnahmen dürfen die Stoffe „quantum satis“ verwendet werden, d. h. die Mengen sind nicht konkret begrenzt, die Stoffe sollen jedoch nur in solchen Mengen eingesetzt werden, die für den technologischen Zweck erforderlich sind.

 

Insgesamt wurden 19 Proben Tabletten, vorwiegend Mineralstoff- und Vitaminpräparate untersucht. Für 6 Proben wurden Gutachten erstellt (2 Präparate wurden doppelt beprobt, verschiedene Chargen). Die Gehalte lagen dabei zwischen 2 und 11 mg/kg Tabletten. Je nach empfohlener Tagesdosis wird auch hier bereits die „Aufnahmemenge von geringer Besorgnis“ überschritten.

 

Was kam raus – Zusammenfassung

Von 135 Proben Pflanzenpulvern, Nahrungsergänzungsmittel mit Hydroxypropyl-methylcellulose (HPMC) und Leerkapseln aus HPMC waren 24 Proben (18 %) auffällig. Die einzelnen Produktgruppen waren jedoch unterschiedlich stark betroffen:

  • Pflanzenpulver – Superfood 5,7 %
  • Nahrungsergänzungsmittel in Kapseln 30 %
  • Leerkapseln 14 % und
  • Nahrungsergänzungsmittel als Tabletten (6 Proben entsprechend 4 Fällen) 21 %.

 

Was bleibt zu tun?

Bei den betroffenen Produkten ergreifen die verantwortlichen Lebensmittelunternehmen und die Überwachungsbehörden die notwendigen Schritte, um die betroffenen Chargen vom Markt zu nehmen. Darüber hinaus sind die betroffenen Lebensmittelunternehmen, aber auch die Branche gefordert, die Ursachen für den Eintrag von Ethylenoxid/2-Chlorethanol in die Lieferkette von Lebensmitteln zu ermitteln und die Eigenkontrollen im notwendigen Umfang zu verbessern.

 

Die Untersuchung dieser Produkte wird routinemäßig fortgeführt, wobei wir verstärkt auf Zutaten aus nicht-EU-Ländern und Zusatzstoffe schauen wollen.

 

 

Infokasten

EU-Lebensmittelrecht: Verantwortung der Lebensmittelunternehmen

Lebensmittel, die den Anforderungen an die Lebensmittelsicherheit nicht entsprechen, dürfen nicht in den Verkehr gebracht werden (Art. 14 der Basis-Verordnung zum Lebensmittelrecht [20]). Bei solchen Produkten ist der verantwortliche Lebensmittelunternehmer nach Art. 19 des EU-Lebensmittelrechts zudem verpflichtet zu handeln: er leitet unverzüglich Verfahren ein, um das betreffende Lebensmittel vom Markt zu nehmen. Wenn das Produkt den Verbraucher bereits erreicht haben könnte, unterrichtet der Unternehmer die Verbraucher effektiv und genau über den Grund für die Rücknahme und ruft erforderlichenfalls bereits an diese gelieferte Produkte zurück, wenn andere Maßnahmen zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus nicht ausreichen.

 

Was bedeuten diese Ergebnisse für Sie als Verbraucher?

Es gab bereits einige Rückrufe und es wird voraussichtlich noch weitere Rückrufe von betroffenen Produkten geben. Achten Sie darauf, Sie können diese auf dem Portal www.lebensmittelwarnung.de einsehen.

 

Es liegt auf der Hand, dass das gesundheitliche Risiko durch unerwünschte Stoffe bei aus aller Herren Länder importierten Pflanzenteilen größer ist als bei regionalen Erzeugnissen. Gerade im Sommer haben doch einheimische Superfoods Konjunktur! Leckere und günstige Alternativen zeigt die Verbraucherzentrale auf [17]. Lassen Sie sich nicht durch übertriebene Wirkungsbehauptungen für NEM täuschen! Gerade jetzt in der Coronazeit gibt es im Internet viele unseriöse Angebote – wir berichteten [18]. Richtig verwendet können Nahrungsergänzungsmittel nützlich sein – aber nicht alles und nicht für jeden [19].

 

Dank

Wir danken unserem „Pestis“-Team und dem Team des Labors „Pflanzliche Lebensmittel“ für das Engagement und die Flexibilität, die zahlreichen zusätzlichen Proben neben den Routinetätigkeiten zu verwalten und zu untersuchen. Hier wurde ein wichtiger Beitrag zum Schutz der Gesundheit von Verbraucherinnen und Verbrauchern geleistet! Unser Dank gilt auch den zuständigen Behörden vor Ort, die für uns die Sonderproben erhoben haben und den Vollzug der Maßnahmen durchführen.

 

Bildernachweis

Andrea Karst, CVUA Stuttgart

 

Quellen

[1] CVUA Stuttgart: Lieber "Kemie" statt Keime? – In der EU ist beides nicht zulässig

[2] Durchführungsverordnung (EU) 2020/1540

[3] Government of Canada: Proposed Maximum Residue Limit PMRL2019-29, Ethylene Oxide, aufgerufen am 25.11.2020

[4] Health Canada – MRL Database (Auswahl: Ethylene Oxide & Sesame seeds), aufgerufen am 25.11.2020

[5] Spezifikationsverordnung für Lebensmittelzusatzstoffe: VO (EU) Nr. 231/2012

[6] Verordnung zur Durchführung unionsrechtlicher Vorschriften über Lebensmittelzusatzstoffe

[7] Analysis of ethylene oxide and 2-chloroethanol in oily seeds using QuOil and QuEChERS in combination with GC-MS/MS; Analytical Observations Report des EURL-SRM

[8] Amtliche Sammlung von Untersuchungsverfahren nach § 64 LFGB: ASU L 13.04-5 2013-08 (QuOil), ASU L 00.00-115 2018-10 (QuEChERS)

[9] BfR-Stellungnahme zur Toxizität von Ethylenoxid und 2-Chlorethanol, hier: Funde in Sesamsamen und in hieraus hergestellten Erzeugnissen vom 20.11.2020, Az. 30-0202-01-11345065 – veröffentlicht als BfR-Stellungnahme Nr. 056/2020 vom 23.12.2020, hier: Gesundheitliche Bewertung von Ethylenoxid-Rückständen in Sesamsamen

[10] ECHA - Einstufung von Stoffen und Gemischen, aufgerufen am 25.11.2020

[11] Stellungnahme des BfR zur toxikologischen Bewertung / Expositionsschätzung zu 2-Chlorethanolfunden in mit Guarkernmehl hergestellter veganer Wurst und in Nahrungsergänzungsmitteln vom 17.06.2021 (Az. 30-0301-06-11578895, bislang nicht veröffentlicht)

[12] CVUA Stuttgart: „Superfood“ – hält nicht, was der Name verspricht

[13] CVUA Stuttgart: Moringablattpulver – weiterhin mit Rückständen und unlauterer Bewerbung

[14] CVUA Stuttgart: Moringa oleifera – ein Update

[15] Wikipedia: Cellulosederivate

[16] Wikipedia: Hydroxypropylmethylcellulose

[17] Verbraucherzentrale Bundesverband: Superfood: Diese Alternativen sind gesund und günstig

[18] CVUA Stuttgart: Nahrungsergänzungsmittel gegen Corona – Die Werbetricks der Online-Händler

[19] Verbraucherzentrale Bundesverband: Nahrungsergänzungsmittel richtig verwenden

[20] Verordnung (EG) Nr. 178/2002 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 28. Januar 2002 zur Festlegung der allgemeinen Grundsätze und Anforderungen des Lebensmittelrechts, zur Errichtung der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit und zur Festlegung von Verfahren zur Lebensmittelsicherheit

 

Artikel erstmals erschienen am 28.07.2021